Romane


Erstes Datum: Erscheinungsdatum in Deutschland, zweites: in Italien, nur italienische Titel: nicht ins Deutsche übersetzt
  • Tage in August, Bechtle 1964, Piper 2001 (La Vacanza 1962)
  • Zeit des Unbehagens, Rowohlt 1963 (L'età del malessere 1963)
  • A memoria, Milano 1967
  • Donne mie, 1974
  • Erinnerungen einer Diebin, 1977 Ullstein,1994 Piper (Memorie di una ladra 1972)
  • Donna in guerra,1975
  • Lettere a Marina, 1981
  • Der Zug nach Helsinki, Rotbuch-Verlag 1985, (Il treno per Helsinki 1984)
  • Isolina: die zerstückelte Frau, Rotbuch Verlag 1988 (Isolina 1985)
  • Die stumme Herzogin, Piper 1991 (La lunga vita di Marianna Ucria 1990)
  • Stimmen, Piper 1995 (Voci 1994)
  • Nachforschungen über Emma B. übersetzt von Sigrid Vagt. Piper 1996 (Cercando Emma 1996)
  • Liebe Flavia, Piper 1998 (Dolce per sé 1997)
  • Der blinde Passagier - Nachdenkn über ein nie geborenes Kind,Piper 1997 (Un clandestino a bordo, Mailand 1996
  • Gefrorene Träume, Piper 2006 (Colomba 2004)
  • Der Zug in die jüngste Nacht, Piper 2008 (Il treno dell' ultima notte, Milano 2008)
  • Amore rubato, Rizzoli Mailand 2013
  • Chiara di Assisi, Elogio della disobedience,Rizzoli Mailand




Frauen im Mittelpunkt

Im Mittelpunkt des gesamten literarischen Schaffens der Autorin stehen die Auseinandersetzungen mit Gewalt gegen Frauen und ihre Befeiungsversuche aus den sie einengenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Einen bedeutenden Stellenwert hat darin auch die Reflektion der Mutter-Tochter-Beziehung sowie die weiblichen Sexualität und ihrer Neudefinition. "In vielen ihrer Werke werden Mütter zu Hauptprotagonistinnen. Dabei zeichnet sie nicht eben ein liebevolles Bild, sondern es sind vor allem Mütter, die den "Status quo" der patriarchalen Familie schützen und aufrecht erhalten."1 Zugleich aber versucht sie, in den von ihr geschaffenen Figuren die Möglichkeiten einer neuen Mütterlichkeit, einer neuen Beziehung zwischen Mutter und Tochter, anzudeuten, die frei ist von diesen patriarchalen Formen. So sagt etwa Klytämnestra zu ihrer Tochter in dem Theaterstück "I sogni di Clitemnestra": "Du und ich, Gesicht gegenüber Gesicht, ich bin die Gleiche wie du. Eine Frau, die nach Zwiebeln und Wäsche stinkt - gerade so wie du. Aber du siehst mich nicht an . Du siehst mich nicht. Du denkst nur an ihn weit über dem Meer. Deine Augen sind schwer voller schwarzen Lichts. Du meine Tochter, eine Frau wie ich, anstatt an meiner Seite zu sein, lebst du nur für ihn, du leckst den Boden, den er betritt, du hältst sein Bett warm, du bist seine Spionin und sein Wachhund." 2



Schon in ihrem ersten Roman "Tage im August" klingen diese Themen an: Prekäre sexuelle Beziehungen zwischen nicht gleichwertigen Partnern, Versuche von Frauen, aus ihren engen familiären Situation und sozialen Normen auszubrechen und Neues zu erproben, Versuche, sich eigene Räume zu schaffen, in denen sie ihre Phantasien und eigene Bedürfnisse nach erfüllter Sexualität ausleben können. Ihr 1972 veröffentlichtes Buch "Erinnerungen einer Diebin", die auf den Schilderungen jener Teresa basiert, die Dacia Maraini im Frauengefängnis von Rom kennenlernte, mit der sie eine enge freundschaftliche Beziehung aufbauen konnte. Sie erzählt aus der Ich-Perspektive die Odyssee der unkonventionellen Frau, die ihr Überleben als Diebin und Tagelöhnerin in Rom sichert. Dabei gewährt sie Einblicke in ihre Familien- und Liebesbeziehungen, die alles andere als glücklich verlaufen. In ihrem Erzählstrom verschränken sich Erinnerungen und Gegenwart unaufhörlich. Mit diesem Buch beabsichtigte sie, jenen Frauen eine Stimme zu verleihen, die sich selbst nicht ausdrücken können.

In ihrem Kriminalroman "Isolina" schildert sie nicht nur die brutale Ermordung der jungen Frau, sondern zugleich auch die Doppelmoral der Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhundert. Der Kriminalroman "Stimmen", der vom Westdeutschen Rundfunk auch als Hörspiel und Hörbuch herausgebracht wurde, geht der Geschichte einer Reporterin nach, die Gewalttaten gegen Frauen aufdecken soll. Auch in ihrem bisher erfolgreichsten Roman "Die stumme Herzogin", schildert sie das von Gewalt und Einengung geprägte Leben einer ihrer Vorfahrinnen in Sizilien, die als Kind von ihrem Onkel, den sie später heiraten muss, vergewaltigt wurde und darauf hin verstummte. Erst nach seinem Tod kann sie sich aus den einengenden Verhältnissen befreiten und zu einer eigenen Sexualität finden. Im Roman "Gefrorene Träume" wird wiederum die Gewalt gegen Frauen thematisiert, zugleich aber ist die Suche nach einer verschwundenen Frau verknüpft mit deren Familiengeschichte und Reflektionen über aktuelle Geschehnisse.Barbara Heinzius merkt in ihrer Zusammenfassung zur Darstellung von Erotik und Gewalt im Werk der Autorin an: "In den negativen Darstellungen wird sexuelle Gewalt von Männern an Frauen gezeigt und verurteilt; in den positiven Darstellungen wird gezeigt, dass weibliche Emanzipation oft als sexuelle Emanzipation beginnt. Mit ihren Darstellungen von Erotik, und Sexualität in ihren feministischen Werken trägt Dacia Maraini zur Wiederentdeckung und Rückeroberung des in der von Männern geschaffenen Kunst entweder ignorierten oder entfremdeten, kolonialisierten Frauenkörpers bei." 3





Stilelemente

Ihre Romane sind nicht eindeutig bestimmten Genres zuzurechnen, so sind einige Romane eher als Kriminalromane zu sehen (Die Stimmen) andere als historische Kriminal-Reportage (Isolina). "Die stumme Herzogin" ist ehr als historischer Roman zu betrachten, wenngleich er sich aber von der gängigen Form historischer Romane unterscheidet, die eine Geschichte lediglich rekonstruieren. Dacia Maraini koppelt die Lebensgeschichte der in die historische Figur Marianna Ucria mit einer Problematik der Gegenwart - den Prozess der Emanzipation.

Ein wesentliches Stilelement in vielen ihrer Romane ist die Verschränkung verschiedener Erzähl- und Erinnerungsebenen. So in ihrem jüngsten Roman "Zug in die jüngste Nacht" die Erinnerungen der Protagonistin an den Gesuchten ehemaligen Freund werden verknüpft mit der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durch ihre Reise nach Auschwitz und die politische Gegenwart des Ungarn-Aufstandes 1956.

Im literarischen Schaffen der Autorin spielt die Erinnerung eine wesentliche Rolle. "Alles geschieht durch die Erinnerung. Bergson nennt es das Bewusstsein und ich glaube, das macht Sinn. Ohne Erinnerung haben wir kein Bewusstsein, haben keine Bezugspunkte, keine Substanz mit der wir uns konfrontieren können und würden so in einer blinden und tauben Gegenwart leben. Die Erinnerung schafft das Band, die Vergleichsmöglichkeit, die Maßstäbe, das Urteilsvermögen und das Bewußtsein. Deshalb wird die Erinnerung gepflegt auch wenn damit immer ein gewisses Maß an Schmerz verbunden ist."4 Nicht selten werden in den Romanen und Erzählungen Erinnerungen mit der Metapher des Reisens verknüpft. In dem Band "Ein Schiff nach Kobe" ist es das Schiff als Transportmittel, hier werden die Erinnerungen an die eigenen Erfahrungen während der Reise verknüpft mit den Tagebuchnotizen der Mutter über den Zeitraum des Japanaufenthaltes von 1938 bis 1941 (bis zum Zeitpunkt der Einweisung in ein Konzentrationslager) und sie werden ergänzt durch Kindheitserinnerungen an die verschiedenen Mitglieder der Familie, durch Reflexionen über wichtige für sie bedeutungsvolle literarische Werke und politische und gesellschaftliche Ereignisse und Probleme. Sabina Gola beschreibt die Bedeutung dieses Prozesses anschaulich."Die Meditation über die Vergangenheit und über die Beziehung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigen bildet das Fundament, welches das gesamte Werk Dacia Marainis stützt."5 Sabina Gola verweist darauf, dass die "Aufzeichnungen der Mutter im ersten Teil des Buchs in exakt chronologischer Reihenfolge wie das Original wiedergegeben werden, für die Tochter die zeitlich begrenzten Bezugspunkte ihrer Erinnerung bilden, aber gleichzeitig die Tür zu einem zeitlich ausgedehnten Raum - der vor ihrer Geburt beginnt und bis zum eigenen Schreiben reicht - in dem sie sich bewegt und im Licht dieser neuen Entdeckung versucht, Enttäuschungen oder Bestätigungen besser zu verstehen. In der schriftstellerischen Arbeit der Autorin erlaubt ihr diese Vorgehensweise die Grenzen er eigenen Erinnerung zu erweitern."5 Nicht nur in diesem Buch sind eigene biografische Inhalte zentraler Ausgangspunkt, auch in Romanen und Erzählungen fließen eigene Erinnerungen ein, werden aber häufig verknüpft mit aktuellen Ereignissen. In ihrem Buch "Bagheria" erzählt sie nicht nur von ihrer schwierigen Rückkehr und ihren Beziehungen zu den Familienmitgliedern, sondern sie reflektiert die gesellschaftliche Situation des Umfelds und die politischen Machenschaften der Mafia. In ihrem 2009 veröffentlichen Band von Erzählungen "La ragazza di Via Maqueda" ist eine Art Reise in Form einer Artikelsammlung durch die Zeit und die Orte, die für sie bedeutend waren. Sie handeln von ihrer eigenen Jugend, von ihren Begegnungen mit Moravia, Pasolini und der Callas. Der Band enthält Erzählungen, die in den Regionen angesiedelt sind, in denen sie lebte und gegenwärtig lebt und kritische Beiträge zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung.



Rezeption in Deutschland

Ihre Bücher haben in Deutschland recht unterschiedliche Resonanz gefunden, bei zahlreichen Lesungen kann die Autorin auf ein großes Publikum rechnen, einige Bücher haben hohe Auflagen erzielt, jedoch in der Beurteilung ihres literarischen Schaffens gibt sehr kontroverse Positionen. Während eine Reihe von Kritikern ihr wohlwollend gegenüber stehen, wird sie von einigen wichtigen Literaturkritikern geradezu verrissen. So urteilte Renate Stinn im Südwestfunk über das Hörspiel zum Buch Stimmen: "Wer.. die psychologische Raffinesse von Beziehungsgeflechten höher schätzt als oberflächliche Aktionismus, wird diesem sorgfältig inszenierten und hervorragend besetzten ‚Spiel der Stimmen' mit großen Genuss und Spannung lauschen." (FR, 2.3.1996), Sigrid Löffler nannte jedoch das Buch "einen feministisch-engagierten Thesenroman" und Katharina Rutschky behauptetet, dass dieses Buch, das sich mehr als 250.000 mal verkaufte, "ein schriftstellerisches Fiasko" sei (FAZ, 18.8.95). Der Spiegel hingegen urteilte: "Dieser Roman ist ein Musterbeispiel sensibler Suche in den Abgründen verletzter Seelen".

Ähnlich kontrovers auch die Auffassung über die Erzählungen in "Kinder der Dunkelheit": Karsten Deventer kritisierte in der Welt: "Es holpert immer wieder in diesem Buch, nicht nur sprachlich.... und es scheint, als geraten die Mittel des realistischen Erzählens bei diesem Sujet an ihre natürlichen Grenzen". Die Leser hingegen empfinden die nüchterne Erzählweise zunächst verstörend, sind aber fasziniert: "Ein Buch, das einem noch lange nachgeht, da die Kinderschicksale atmosphärisch sehr dicht erzählt sind", "in den 12 Geschichten, die alle mit dem Ausgeliefertsein von und der willkürlichen Gewalt gegen Kinder handeln, tritt am Ende die Kommissarin Adele Sòfia aus der Dunkelheit hervor - registriert, dokumentiert, ohne jedoch zu verhindern. Ihre Hilflosigkeit breitet auch in mir, der Leserin und berührt auch nach dem Schließen des Buchdeckels".

Sabine Doering meint in ihrer Rezension des Buches "Ein Schiff nach Kobe", dass (ihr) vorrangig dort, wo sie von Alltäglichem erzählt das Erzählen leichter falle," was "zu manchen Verschiebungen in den Proportionen des Buches" führe und sie kritisiert, dass Marainis Kommentare zu den mütterlichen Tagebuchnotizen deren Umfang oft beträchtlich übertreffen Völlig unbegreiflich ist offenbar der Rezensentin, dass Maraini "aus den frühen Beobachtungen ihrer Mutter Rückschlüsse auf ihre eigene spätere Entwicklung zu ziehen" versucht. Dabei werde manches kindliche Erlebnis stark strapaziert und insgesamt sei das Buch eine rührselige Inszenierung. (FAZ, 1.6.2004) Meike Fessmann von in der Süddeutschen Zeitung hingegen sieht in diesem Buch eine "erstaunliche Meditation über das Familiäre". Sie kritisiert lediglich, dass dem Buch eine "gewisse Verleugnung des Schmerzes" anzumerken sei, die zuweilen in "Naivität" umschlägt, weil sie über die Zeit im Konzentrationslager nicht sprechen mag. (Süddeutsche Zeitung 2.4.2004)

Auch ihre beiden jüngsten Romane "Gefrorene Träume" und "Der Zug in die jüngste Nacht" werden ähnlich kontrovers beurteilt. Winfried Wehle schreibt unter der Überschrift "Kunst oder bloß gut gemeint" über das Buch "Gefrorene Träume": "Maraini ist eine erfahrene Autorin, die weiß, wie man den eher dünnen Hauptstrang der Geschichte, die Suche nach Colomba, die Za in die tiefen Wälder der Abruzzen (und gefährliche Abenteuer) führt, so lange mit anderen Geschichten von anderen Personen, vor allem von Zas Verwandten, auffüllt, bis daraus ein Roman von über vierhundert Seiten wird. Sie beherrscht die Montage- und Spannungstechniken des Metiers und immer wieder gelingen ihr eindrucksvolle Szenen. Nur wenn sie nicht bloß erzählen, sondern auch die Historie der italienischen Linken vermitteln will, scheitert sie zuweilen, da kommt ihr die Pädagogik in die Quere." (FAZ, 30.4.2007) "Der Roman ist eine großräumige Parabel auf das Menschengeschlecht. Er bildet ein kunstvolles Kaleidoskop über Beziehungen, in dem auch das Erzählen selbst eine große Bedeutung erhält. Nicht nur überaus Spannendes wird sprudelnd erzählt, sondern die Magie des Erzählens und dessen Kulturgeschichte werden in einer Weise zum Leben erweckt, wie man dies nur aus berühmten alten Büchern kennt."

Anmerkungen:
1.Tommasina, Gabriele : The pregnant nun: Suor Attanasia and the metaphor of arrested maternity in Dacia Maraini, Italica 0021-3020, 22. März 2004. Übersetzung EL
2. Sharon Wood, The political Aesthetic of Dacia Maraini, in: Italians women's Writing, S. 216-231, S. 227 Übersetzung: EL
3.Heinzius, Barbara: Feminismus oder Pornographie - zur Darstellung von Erotik und Sexualität im Werk Dacia Marainis, Röhrig Universitätsverlag 1995 S.407
4.Questioni di identità n opere letterarie e cinematografiche italiane a partire dagli ultimi anni Ottanta, Brüssel 2007, S.148, Übersetzung: EL
5. Sabina Gola, "Memoria e indentità ne la Nave per Kobe diari giapponesi di mia madre di Dacia Maraini in: Sabina Gola, Laura Rorato: La forma del passato, Questione del identità in opere letterarie e cinomatografiche italiane a partire dagli ultimi anni Ottanta, Brüssel 2007, S. 147 - 160, Übersetzung EL, S.147
6. ebda S. 148